Grundlagen der Polyvagal-Theorie — kurz erklärt

Veröffentlicht von Kristina am

In letzer Zeit stolpere ich immer wieder über Porges‘ Polyvagal-Theorie. Grund genug, um mich genauer hiermit auseinanderzusetzen. Daher möchte ich in diesem Artikel einen kurzen Überblick über das grundlegende Konzept geben, das sich hinter der Polyvagaltheorie verbirgt.

Das Autonome Nervensystem

In den meisten Quellen wird das autonome Nervensystem in zwei Systeme unterteilt: das sympathische und das parasympathische (auch: Nervus vagus) Nervensystem:

  • Das sympathische Nervensystem wirkt aktivierend und ist verantwortlich für Kampf- oder Fluchtreaktionen (fight or flight).
  • Das parasympathische Nervensystem hingegen wirkt beruhigend (rest and digest).

Beide Systeme befinden sich optimalerweise im ständigen Wechselspiel miteinander. Die Regulation dieser Systeme erfolgt nicht willentlich, daher auch die Bezeichnung autonom.

Was macht die Polyvagal-Theorie so Poly?

Poly bedeutet viel. Und genau daher kommt auch der Name dieser Theorie. Denn im Gegensatz zu herkömmlichen Theorien über das autonome Nervensystem, gibt es in der Polyvagaltheorie nicht nur einen Vagusnerv sondern zwei: den dorsalen (nach hinten gerichtet) und den ventralen (nach vorne gerichtet) Vagus.

Während das dorsale Nervensystem für die Immobilisierung des Körpers verantwortlich ist, ist das ventrale Nervensystem gewissermaßen das System der sozialen Interaktionen.

Nach Porges ist diese Unterteilung nur bei Säugetieren zu beobachen und ist die Ursache für unsere soziale Interaktion.

Wie reagiert das Nervensystem in der Polyvagal-Theorie?

In der Polyvagal-Theorie gibt es durch die Zweiteilung des Vagusnerves nun drei Reaktionspfade, welche in der folgenden Reihenfolge durchlaufen werden:

  1. Dorsaler Vagus
  2. Sympathikus
  3. Ventraler Vagus

Die nachfolgende Tabelle stellt dar, welche Reaktionen und Emotionen durch welche Situationen verursacht werden.

NervSituationReaktionEmotion
Dorsaler VagusExtreme GefahrImmobilisierungExtreme Angst
SympathikusGefahrKampf oder FluchtAngst / Wut
Ventraler VagusSicherheitSoziale AktivitätenFreude

Die hierarchische Anordnung der Nervensysteme hat zur Folge, dass ein darüber gelegenes Nervensystem nur dann wirken kann, wenn das darunter liegende Nervensystem nicht aktiviert ist. Wenn wir uns beispielsweise in einer extremen Gefahrensituation befinden, sind wir oft zunächst völlig erstarrt, bevor wir weiter reagieren können. 

All diese Reaktionen laufen noch vor den kognitiven Prozessen ab, also bevor wir bewusst etwas wahrnehmen. Im Gegensatz zur kognitiven Perzeption wird dies auch als Neurozeption bezeichnet.

Was bringt uns die Polyvagal-Theorie?

Die Reaktionen unseres autonomen Nervensystems sind geprägt von Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben. Denn evolutionär gesehen, sind sie nicht mehr als ein Schutzmechanismus auf Gefahrensituationen. Da wir auf diese Reaktionen keinen direkten Einfluss haben, kann die Polyvagaltheorie vor allen Dingen helfen, Verständnis und Mitgefühl zu schaffen. Und dies nicht nur für andere, sondern vor allen Dingen auch für uns selbst. Denn oft sind wir selbst unser härtester Kritiker. Aufgrund vergangener Erfahrungen oder Traumata, deutet unser Nervensystem bestimmte Situationen als Gefahrensituationen und reagiert entsprechend. Ist ein tieferliegendes System aktiviert, sind alle höherliegenden System blockiert.

Nimmt unser Körper bedingt durch ein vergangenes Trauma eine Situation als Gefahr wahr, fühlen wir uns nicht mehr sicher. Und dies einfach nur, weil unser Körper uns vor dieser Gefahr schützen möchte. In unserer Gesellschaft reagieren wir oft mit Schuldgefühlen oder Wut auf uns selbst auf diese initialen Reaktionen. Wir haben es gelernt, derartige Emotionen zu unterdrücken. Das Wissen, dass unser Nervensystem in derartigen Situationen einfach nur versucht, uns in Sicherheit zu bringen, kann uns helfen, mehr Mitgefühl für unsere eigenen Reaktionen zu lernen. Denn das autonome Nervensystem reagiert, noch bevor eine Bewertung durch die Kognition stattfindet.

Weitere Informationen

Einen guten und auch ohne Hintergrundwissen gut verständlichen Einstieg in die Polyvagaltheorie bietet das Buch von Deb Dana: Die Polyvagaltheorie in der Therapie.

Kategorien: Gedanken